Sex, Politik und Religion im Unternehmen

Ich bin überzeugt, wir sollten unsere politische Meinungsbildung nicht den Medien, facebook oder den Parteien überlassen. Auch wir sollten uns äußern, miteinander reden, über das was wir wahrnehmen, was uns durch den Kopf geht und uns persönlich wichtig ist. Mit wir meine ich jeden von uns, in der Familie, mit Freunden, in unseren Netzwerken – und bei der Arbeit. Denn: Wir entwickeln Meinungen und wir bilden Meinungen.

Let’s talk about Chemnitz

Chemnitz ist eine gute Stunde Fahrt von dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Viel weiß ich nicht über die Stadt. Ich kenne die Autobahnausfahrt, den IKEA und den Bahnhof. Doch mit dem, was seit dem 26. August dort passiert ist, ist mir Chemnitz sehr ins Bewusstsein gerückt. Natürlich geht es nicht um die Stadt. Es geht mir um rechte Gewalt und rechten Hass gegen unsere Freiheit. Mich macht das betroffen, ärgerlich und wütend.

Wir können uns auf Demonstrationen und Konzerten versichern, dass wir mehr sind. Auf die Schnelle ist diese Antwort wahrscheinlich gut. Insgesamt werden die vielschichtigen und mehrdeutigen Problemkonstellationen, die hinter solchen Ereignissen wie in Chemnitz stehen, dadurch aber nicht klarer. Nein, vielmehr unterscheiden wir in Positionen, die genau die Komplexität hinter den Ereignissen verdecken, sodass etwas Schablonenhaftes entsteht. Wir sollten stattdessen mehr über derartige Themen reden, unser Wissen, unsere Erfahrungen und Gefühle zusammentragen und ihre Bedeutung für uns gemeinsam klären. Unsere Unternehmen sind gute Orte, um genau das zu tun.

Im Unternehmen über Politik reden

Was der Business-Knigge uns mal vorgab, über Politik, Sex und Religion nicht zu reden, sollte heute nicht mehr gelten. Wir leben in Zeiten großer politischer Polarisierungen, die uns sprachlos machen. Ich glaube wir werden bei Tabuthemen in Unternehmen“ sprachlos, weil zu viele Informationen vorhanden sind, die wir allein kaum einordnen können; weil Deutungsautoritäten (von Tagesschau, über Parteien bis Papst) an Bedeutung verloren haben und uns die Aufgabe der Meinungsbildung selbst überlassen; oder weil wir unsicher geworden sind, wie andere auf politische Themen blicken.

Dabei scheint die Notwendigkeit sich zu Politik zu äußern und die Ansichten anderer zu erfahren so wichtig wie lange nicht. Doch warum ausgerechnet im Unternehmen?

Betrachten wir es ökonomisch

Ereignisse wie in Chemnitz oder die me-too-Debatte beschäftigen viele auch bei der Arbeit. Sie nehmen nicht nur Einfluss auf die Performance, vielmehr können sie den Umgang miteinander beeinträchtigen. Dass es sich dabei um Themen handelt, die sich häufig nur indirekt auf die Arbeit beziehen, macht es schwieriger darüber zu reden. Aber: Statt sprachlos zu werden und das direkte Gespräch zu vermeiden, sollten wir den Mut für den offenen Dialog haben. Das politische Gespräch kann dazu beitragen, sich schwierige Themen miteinander zu erschließen. Und so kann die Praxis des politischen Austauschs Teil der unternehmerischen Ressource im Umgang mit der VUCA-Welt werden.

Betrachten wir es ethisch

Wir alle sind Menschen mit einem Grundbedürfnis nach Austausch und nach individueller Entwicklung in Gemeinschaft. Wir sollten dieses Grundbedürfnis im Unternehmen bedienen, denn Unternehmen sind wichtige soziale Räume für unseren Alltag. Indem wir im Unternehmen Gespräche über kritische Themen führen, machen wir deutlich, dass uns diese wichtig sind. Wir bauen Brücken zwischen dem Gegensätzlichen. Miteinander in Kontakt zu kommen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszuloten, Meinungen zu äußern, sich gegenseitig zuzuhören, dazuzulernen und im guten Gewissen auseinander zu gehen, dass man sich verstehen kann, stärkt das Gemeinschaftsgefühl, die gegenseitige Verständigung und das Vertrauen ineinander. Wir erkennen gemeinsame Werte des fairen und friedvollen Austauschs und geben uns gegenseitig Wertschätzung für die Bereitschaft zum Gespräch. Meinungsbildung zielt nicht nur auf den Inhalt ab. Gut gemacht, ist sie ein Prozess mit einem hohen Selbstwert für alle Beteiligten.

Gute Beispiele gibt es schon

Bei CONTRACT finden wir regelmäßig formelle und informelle Gelegenheiten, um kritische Themen miteinander zu besprechen. Die monatlichen Teamtreffen genauso wie unsere Off-Sites können dafür von uns bewusst genutzt werden oder politische Gespräche ergeben sich bei Mittagessen und Autofahrten.

Ein gutes und bekanntes Beispiel für Dialog über kritische gesellschaftliche Themen in großen Unternehmen bietet Accenture. Dort veranlasste die persönliche Verunsicherung eines Mitarbeiters über die Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA die Unternehmensführung dazu, alle 50.000 Mitarbeiter in den USA zu einem Online-Dialog einzuladen. Dies war die Geburtsstunde des unternehmensinternen Building Bridges Program, das es Mitarbeitenden ermöglicht persönliche kritische Themen im Unternehmen zur Sprache zu bringen. Die Möglichkeit gesellschaftlich schwierige Themen miteinander zu besprechen, bestärkte die Mitarbeiter in ihrem gegenseitigen Verständnis, förderte Empathie füreinander und zahlte auf den gemeinsamen ‚purpose‘ ein.

Politischer Dialog im Unternehmen ist eine ungewohnte Intervention

Bei allen Vorteilen, die solche Settings bieten, ist gerade bei deren Einführung die Art und Weise des Dialogs genau zu klären. Es handelt sich dabei um eine sehr spezielle und für die allermeisten eher ungewohnte Intervention in das Arbeitsgeschehen. Sie sollte sehr gut konzipiert und vorbereitet sein. Dabei ist besonders der Umgang mit individueller Betroffenheit gut im Blick zu behalten. Je nach Thema und Unternehmen kommen sicherlich verschiedene Formate infrage. In jedem Fall sollten abhängig vom Kontext (ob Team oder Gesamtunternehmen) alle eingeladen sein, an dem Dialog teilzunehmen. Die Rahmenbedingungen (Anfang, Ende, online, offline, Beteiligungsrechte, moderiert etc.) sollten klar sein und auch sollte klar sein, warum und wozu genau eingeladen wird.

Mut haben miteinander zu reden

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der wir uns mit Wertschätzung begegnen und in friedvollen Austausch miteinander treten können. Deswegen möchte ich dafür eintreten, dass wir auch in Unternehmenskontexten miteinander politisch reden. Das kann dann bedeuten, dass wir mit jenen reden müssen, denen nicht viel an offener Kommunikation gelegen ist, oder die ihre eigene Blase vorsichtshalber nicht verlassen wollen. Aber so wirken wir der unterkomplexen Polarisierung von Meinungen entgegen, begegnen der Radikalisierung, tragen zu einer gemeinsamen Entwicklung bei und fördern Gemeinschaft.

Simon Pfersdorf

Berater, Trainer und Coach.

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